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Dieter
Joensson
Die
Metagehirne des
kollektiven Denkens
Ein Essay vom 23. Mai
2023
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3 Seiten
Obwohl unsere
Einzelgehirne in den letzten dreihundert Jahren biologisch nahezu
unverändert blieben, hat unsere Gruppenintelligenz im gleichen Zeitraum rasante
Fortschritte gemacht. Was sind die Ursachen und Antriebe dieser
merkwürdigen Entwicklung?
Seit
Urzeiten schon formieren sich gesellig lebende Tiere und Menschen zu
gemeinsam denkenden Gesellschaftskörpern. Sie tun das, um mit möglichst
geringem Aufwand die anfallenden Informationsströme zu bewältigen.
So
muss auf freier Wildbahn beim Weiden nur eines der Tiere aufmerksam
sein. Alle anderen Mitglieder der Herde können sorglos vor sich hin
fressen und verdauen. Sowohl beim gemächlichen Grasen als auch beim
hektischen Aufbruch bilden die Gehirne dieser Tiere ein gemeinsames
Gehirn.
Bei jeder Kommunikation mobiler Lebewesen werden solche übergeordneten "
Metagehirne"
als gemeinschaftliche Gehirnstrukturen gebildet. Die teilnehmenden
Individuen denken dabei zumindest zeitweise an das Gleiche.
Das griechische Vorwort
meta
wird hier im Sinne von „über“ verwendet (wie in Metagalaxis, Metakritik
oder Metasprache) bzw. in Anlehnung an den biologischen Begriff
Metazoon für das vielzellige Lebewesen, das entwicklungsgeschichtlich
dem einzelligen Protozoon folgte.
Metagehirne funktionieren auch ohne feste Verkabelungen und sind daher
äußerst flexible Gebilde.
Diese
Art von Gehirnen findet man bei allen gesellig lebenden Tieren, bei
Bienen, Pavianen, Ameisen und Rindern ebenso wie bei Delphinen. Und bei
Menschen.
Im Unterschied zu den Tieren nutzen wir Menschen beim
gemeinschaftlichen Denken zusätzlich mittlerweile in großem Umfang
externe, nicht-biologische Informationskanäle und -speicher außerhalb
unserer Köpfe.
Tiere verfügen lediglich über erste Keimformen
externer Informationsspeicherung. Wenn ein Leopard ein bestimmtes
Territorium mit seinem Sekret markiert, so bildet er noch Tage später
mit jedem nachfolgenden Artgenossen zum Thema Gebietsanspruch ein
spezielles Metagehirn. In diesem Fall nicht zeitgleich, sondern
raumgleich.
In ähnlich raumbezogener Weise können auch urmenschliche
Felszeichnungen interpretiert werden.
Viel
später, mit Erfindung der Schrift, breiteten sich die menschlichen
Metagehirne in bisher unvorstellbarer Intensität aus. Bis dahin waren
unsere Metagehirne, wie die der Tiere, im Wesentlichen auf die Nutzung
kurzzeitig wirkender akustischer und optischer Signale angewiesen.
Mit
Hilfe der Schrift konnten nun aber auch Lügen und Irrtümer so leicht
wie nie zuvor verbreitet werden. Erst nach Erfindung des
wissenschaftlich kritischen Denkens, etwa mit Galilei beginnend, gelang
es, systematisch nützliches Wissen zu generieren.
Von da an
ist eine beispiellose Transformation der Menschheit vom Mittelalter in
die heutige Zeit zu beobachten. Und das, obwohl es in den vergangenen
drei Jahrhunderten nachweislich keine nennenswerte biologische
Weiterentwicklung unserer Einzelgehirne gegeben hat. Nur die
Gruppenintelligenz (unserer Metagehirne) hat spürbar zugenommen.
Seitdem
wir nun auch elektrotechnisch miteinander kommunizieren, sind wir
zunehmend in die Lage versetzt, Metagehirne über große Entfernungen
hinweg aufzuspannen und dabei Informationen ohne Zeitverzögerung
weiterzugeben, per Telefon, Rundfunk, Fernsehen oder Internet.
Die
vorerst letzte Etappe dieser Entwicklung begann mit den Anfängen der
modernen Informatik vor etwa siebzig Jahren. Sowohl die
Wachstumsgeschwindigkeit als auch die Massenproduktion dieses
speziellen Industriesektors ist beispiellos in der gesamten
Menschheitsgeschichte.
Was aber treibt die enorme Entwicklung
der Informatik und damit der menschlichen Gruppenintelligenz voran? Hat
hier ein überirdisches, göttliches Wesen seine Finger im Spiel?
Entfaltet sich nun doch mit Macht der große Weltgeist, dem schon Hegel
seinerzeit alles zugetraut hatte?
Um diese Fragen beantworten zu können, ist die Klärung des Begriffes
"
Information" unverzichtbar.
Es
gibt dazu bereits seit langem erstaunlich viele Definitionen - fast so
viele wie Autoren, die darüber schreiben. Die Palette reicht von sehr
speziellen Eingrenzungen bis hin zur Anwendung auf alles und damit bis
zur kompletten Sinnentleerung des Begriffes.
Weitestgehende
Einigkeit besteht bei den meisten Autoren nur darin, dass alle
Lebewesen Informationen verarbeiten – angefangen von den genetischen
Informationen in jeder einzelnen Körperzelle bis hin zu den mentalen
Informationen in den Köpfen mobiler Lebewesen.
Dies hat mit
einer fundamentalen Eigenschaft lebender Organismen zu tun: Sämtliche
Lebewesen der Erde existieren ausnahmslos nur in thermodynamischen
Fließ-Gleichgewichten mit permanenter Stoffwechslung und
Informationsverarbeitung.
Das heißt, jedes Lebewesen, ob
Mensch oder Bakterium, besteht aus ständig zerfallenden
Körperstrukturen, die immer wieder regeneriert werden müssen. Der
Zerfall wird physikalisch verursacht und wirkt gleichermaßen auf
lebende und nicht lebende Materie: Die Natur in uns und um uns herum
ist unentwegt damit "beschäftigt“, alles und alles zu durchmischen.
Das
geschieht ohne Beihilfe irgendeiner geistigen Macht einfach deshalb,
weil jeder örtlich auftretende Energie-Überschuss selbst die notwendige
Energie zum Mischen benachbarter Partikel mitbringt. Man nennt dieses
elementare Naturgesetz des selbständigen Abbaus von
Energie-Unterschieden das Entropiegesetz.
Da unsere innere
Ordnung nur im fließenden Gleichgewicht steht (im Gegensatz zum
ruhenden Gleichgewicht in Kristallen), bieten wir dem Entropiegesetz
buchstäblich in jeder Körperzelle Angriffspunkte zum erfolgreichen
Mischen.
Wir können uns dem fortwährenden Ordnungszerfall nur
dadurch widersetzen, indem wir geordnete Muster - sogenannte
Informationen - in körpereigene und körperfremde Materie kopieren.
Mit Hilfe dieser gespeicherten Muster kann dann die vorher zerfallene
Ordnung wieder hergestellt werden.
Information
ist demzufolge gespeicherte Ordnung, die von lebender Materie erzeugt
und genutzt wird, z.B. als geordnete Muster in Schallwellen, Gehirnen,
Büchern, Maschinen und sämtlichen biologischen Zellen mit ihren
genetischen Informationen.
In keiner einzigen lebenden Zelle
fehlt übrigens diese spezielle Art geordneter Muster, weder in
einzelligen Bakterien noch in irgendeiner Zelle im Innern von Pilzen,
Pflanzen oder Tieren. Die Absolutheit dieser Erscheinung widerspiegelt
nur die absolute Abhängigkeit jeglichen Lebens vom Entropiegesetz.
So
sterben z.B. in jedem erwachsenen Säugetier unentwegt pro Minute
Millionen kompletter Körperzellen. Solange der Körper lebt, werden
diese Zellen sofort wieder nach den Bauplänen der genetischen
Information erneuert. Wir alle sind immer nur Kopien von Kopien. Dies
wird am auffälligsten bei sehr alten Menschen sichtbar.
Jedes
höher entwickelte mobile Lebewesen wird außerdem Tag und Nacht von
psychologischen Informationen durchflutet, um die Veränderungen der
Außenwelt zu prüfen und das eigene Verhalten darauf abzustimmen.
Die
Gefahr, das verletzliche Fließgleichgewicht des Lebens dem
unerbittlichen Entropiegesetz opfern zu müssen, droht in jeder Sekunde
der Existenz.
Deshalb müssen Lebewesen ständig Informationen
sammeln, auswerten und „griffbereit" horten, im eigenen Körper und
außerhalb. Das gilt auf freier Wildbahn ebenso wie im Straßenverkehr.
Keinen Augenblick lang lässt uns diese tödliche Bedrohung aus ihren
Fängen. Lieber ständig etwas mehr Informationen als nur einmal zu wenig.
Im
Laufe von Jahrmillionen haben sich aus diesem profanen Grund in den
mehrzelligen mobilen Lebewesen allmählich Gehirne als spezialisierte
Körperregionen für die Aufbewahrung und Verarbeitung von Informationen
herausgebildet.
Schon längst werden die lokal begrenzten
Einzelgehirne durch Metagehirne organisatorisch ergänzt. Auch diese
übergeordneten Gehirnstrukturen stehen unter dem gleichen
biophysikalischen Evolutionsdruck: Lieber ständig mehr Informationen
als einmal zu wenig.
Wie die geschichtliche Entwicklung
gezeigt hat, tendieren häufig verwendete Metagehirn-Strukturen über
größere Zeiträume hinweg zum nicht-biologischen „Aushärten“
(hardwaring) der verwendeten Informationskanäle und -speicher.
Die
ursprünglich lockeren Kommunikationsverbindungen werden dabei aus
Effektivitätsgründen allmählich zu festen Nachrichtenkanälen (inklusive
Funkverbindungen mit ihren technischen Sende- und Empfangsanlagen).
Der
ständige Zugriff auf akkumuliertes Wissen bringt Bibliotheken und
Speicherbearbeitungstechniken zum rationellen Abspeichern, Abrufen und
Verwalten von Daten hervor.
Eine fortwährend wiederholte
Überbrückung des
Raumes
führt also zur technischen Kristallisierung der
Informations-Kanäle, eine fortwährend wiederholte Überbrückung der
Zeit
fördert die Bildung nicht-biologischer externer Informations-Speicher.
Nach
dem Aushärten der Kanäle und Speicher wird zusätzlich eine neue
Qualität erreicht. Mit dem neu entstandenen Informatik-Gerüst werden
nun auch andere Arbeitsteilungen „denk-bar“ und die bisherigen
Teilnehmer austauschbar. Die gleiche Hardware ermöglicht nun,
Metagehirne mit ganz anderer Struktur und Zielsetzung zu bilden.
Unsere
heutigen Metagehirne unterscheiden sich von früheren genau darin, dass
sie eine deutlich fortgeschrittene Materialisierung nicht-biologischer
Informationskanäle und -speicher außerhalb der menschlichen Köpfe
aufweisen: Telefonleitungen, Funkbrücken, Computer, Bibliotheken und
elektronische Datenbanken.
Auf den geordneten Bahnen dieser
technischen Hilfsmittel breiten sich Metagehirne inzwischen filigran
und blitzartig über ganze Länder hinweg weltweit aus oder auch nur
lokal zwischen wenigen Menschen. Je nach Bedürfnis und Sachlage,
zielgerichtet oder spontan, dauerhaft oder kurzlebig.
Die
aktuell vorhandenen nicht-biologischen Datenspeicher und Datenstränge
außerhalb unserer Köpfe tragen schließlich entscheidend dazu bei, dass
die heutige Gruppenintelligenz so viel mehr leisten kann als vor 100
oder vor 1000 Jahren.
Ausführlich in:
D. Joensson:
DatenFLUT
- Biologische Hintergründe eines technischen Phänomens.
Wissenschaft & Technik Verlag Berlin 1997 und 1998 sowie als
eBook 2017 und Printausgabe 2018